Vejin - unbekannter nachbar - vicino sconosciutoVejin - unbekannter nachbar - vicino sconosciuto - Foto: Freddy Planinscheck
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Geschichte
I. Weltkrieg
Verbrannte Erde
Fodoms auf der Flucht im I. Weltkrieg


Als Italien Österreich den Krieg erklärte, verlegten die österreichischen Truppen aus strategischen Gründen den größten Teil der Frontlinie auf eine Hügel- und Bergkette nördlich von Fodom (Buchenstein). Im Tal verlief die Frontlinie nahe dem Weiler Court, zwischen La Plié de Fodom (Buchenstein) und Réba (Arabba). Die italienischen Truppen ihrerseits hatten ihre Artilleriegeschütze auf die Bergkette südlich von Fodom verlegt. Das Tal war damit zweigeteilt und befand sich buchstäblich zwischen den Kanonen.

Da ein großer Teil des Tales wehrlos war, wurden die Dörfer von den italienischen Truppen kampflos besetzt. Dabei erwarteten die italienischen Truppen einen triumphalen Empfang durch die "befreiten" Italiener, wie dies in der Propaganda hingestellt wurde; doch die Beölkerung versteckte sich in den Häusern.

In La Plié wurde eine Carabinieristation eingerichtet, und zwar im jenem Gebäude, in dem sich auch eine Unterkunftstätte für Kranke befand. Aufgrund der Anwesenheit italienischer Truppen beschossen die österreichischen Truppen (mit Beginn am 18. August 1915) La Plié de Fodom, also ihr eigenes Dorf; dabei trafen sie oft daneben und schossen das ganze Dorf in Brand, am Schluß zerstörten sie auch das Krankenhaus, wo 134 Personen untergebracht waren. Unter dem Granatenhagel konnte man sich auch nicht den Gebäuden nähern, um das Feuer zu löschen.

Den Menschen des Tales blieb nichts übrig als ihre Dörfer zu verlassen. Ein Teil floh nach Norden, ins benachbarte Gadertal, nach Deutschtirol und Böhmen, ein Teil nach Süden, bis nach Domodossola, nach Pallanza (Lago Maggiore) und in die Abbruzzen. Alle blieben so lang als möglich zuhause und brachen zumeist erst auf, sobald ein Verbleib nicht mehr möglich war: Wir sind zuhause geblieben bis zur letzten Minute. Es wurden die Matratzen auf die Wagen geschleppt ... Wir sind unter den Granaten losgegangen ...

Der Großteil der Flüchtlingen mußte innerhalb weniger Stunden aufbrechen, Zeit für die Vorbereitung der Flucht hatten sie kaum, mitnehmen konnten sie nur wenige Habseligkeiten. Eine Familie mußte das angerichtete Mittagessen stehen lassen und aufbrechen:

An jenem Abend schossen die Österreicher, die Granaten explodierten um uns herum. Die Italiener waren in den Wald gegangen, um zu schlafen, und wir waren alle im Keller. Am Tag danach gab es ein ganz großes Durcheinander; sie gaben uns Anordnungen, eine nach der anderen, immer mit dem Gewehr in der Hand: Geht ins Haus, kommt raus, schaut nicht aus dem Fenster. Dann haben sie Agai in Brand gesteckt. Tante Jacoma hatte gerade die Polenta über, aber sie mußte sie vom Feuer nehmen und stehen lassen, denn wir mußten weggehen.

Ein anderer Augenzeuge berichtet über die Dramatik der Lage:

Nach einiger Zeit begann die Bombardierung, und draußen explodierte eine Granate, ich erinnere mich. Ich erinnere mich an diese Explosion, ich habe sie gesehen ... und gerade hier, in dieser Küche, wurde mein Bruder Felix durch einen Splitter über dem Knie verletzt, und Pina hatte einen zersplitterten Arm und eine Wunde im Bauch ... Wir sahen, daß wir nicht bleiben konnten und sind aufgebrochen, ich mit den Schlappen die Mutter mit der Wiege auf dem Rüken, darin ein fünf Monate altes Kind.

Für die einfache Bevölkerung, die nie etwas anderes als ihr Tal kennengelernt hatte, glich der Krieg einem Weltuntergang:

Es kamen die Geschosse dahergeflogen, sogar im Friedhof flog Erde auf uns, meine Mutter sagte: Die Toten überfallen uns.

Die Flüchtlinge legten viele Tage zu Fuß zurück, bevor sie eine erste Unterkunft fanden. Die ersten Nächte verbrachten sie zumeist auf Stallböden. Eine Frau brachte ihr Kind im Wald zur Welt. Über den Eindruck, den die Flüchtlinge hinterließen, berichtet Franz Canins, Pfarrer von Longiarü:

Man hatte ihnen zwar sofort nach der Kriegserklärung kundgetan, daß sie fort müßten, konnten es aber nicht glauben, übers Herz bringen die Heimat zu verlassen. Eines Abends hieß es: "Morgen um 8 Uhr muß alles fort sein". Es machte einen wehmütigen Eindruck auf den Straßen und Wegen diesen armen Flüchtlingen zu begegnen, eine Völkerwanderung im kleinen. Der dezimierte Viehstand der Familie wurde vorausgetrieben (Rindvieh, Ziegen und etliche Schafe), dann folgte die Familienmutter coi tosac. Sie und die älteren Kinder einen Korb am Rücken, die kleineren einen Rucksack oder nichts; dann folgte der alte Vater oder eine Tochter mit Gratten colle vaccie, worin sich die wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten, fanden. Alle Flüchtlinge tief niedergeschlagen und so manche zogen weinend weiter Herberge suchend. Es kamen gegen 60 Personen hierher, die meisten aus Andraz, Corte-Brenta, Ornella usw. und wurden in leerstehenden Häusern untergebracht.

Für 40 Fodomer Familien ging die Reise bis nach Böhmen; ein zehnjähriger erzählt:

Im Gadertal blieben wir drei Monate, mich hatte man zu einem Bauern getan, ich weidete die Kühe ... Im Herbst fragten sie uns dann, ob wir nach Böhmen gehen wollten, zunächst allerdings hatten sie Salzburg gesagt. So sind wir aufgebrochen, zuerst nach Bruneck, dann nach Ehrenburg, am Tag danach kam der Pustertaler Zug und ließ die Familien einsteigen. Der Zug war voll. Wir sind über Lienz gefahren und haben bis Salzburg eine Woche gebraucht. Dort haben sie uns aussteigen lassen und haben uns in einem großen Saal voll Stroh gebracht, in dem es fürchterlich stank.

Den Fodomer Familien, die nach Böhmen flohen, blieb die Unterbringung in Lagern glücklicherweise erspart. Einmal in Böhmen angelangt, hatten sie eine relativ angenehme Existenz, sie wurden von der Bevölkerung zunächst gut behandelt. Als jedoch die Hungersnot ausbrach, wurden sie beschuldigt, an der Misere schuld zu sein. Immer wieder wird in der Geschichte der Flüchtling, der schwächste der gesamten Gesellschaft, zum Sündenbock gestempelt, obwohl er das erste Opfer des Unrechtes ist.

Bei den Familien des Gadertales (Val Badia), die Fodomer bewirteten, hatte man oft Mitleid mit den Fodomern.

Die Flüchtlinge wurden oft mit Mißtrauen behandelt. Da sie aus österreichischem Gebiet geflohen waren, wurden sie auf italienischer Seite verdächtigt, auf der Seite des "Feindes" zu stehen. Doch diese Menschen hatte nie Feinde gehabt, nur ein paar armeselige Felder, um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Auf österreichischer Seite wiederum wurden sie aufgrund ihrer Sprache verdächtigt, Sympathisanten Italiens zu sein. In Fassa wurden bei Ausbruch des ersten Weltkrieges "verdächtige" Personen vorsichtshalber versetzt.

Ein Flüchtling erzählt:

In der ersten Zeit beschimpfte man uns ziemlich viel, man haßte uns, und als der Col di Lana in die Luft ging, sagten sie uns Wörter, die man nicht wiederholen kann ... Ich erinnere mich auch an den Pfarrer Sopplà. Er wurde mißhandelt, man sagte von ihm, daß er im Tabernakel ein Telefon hätte, um mit dem Feind zu sprechen, daß er ein Verräter war, einmal gingen Fanatiker hinter ihm her, beschimpften ihn und bedrohten ihn mit einem Messer.

Es gab aber auch Herzlichkeit, und dennoch war es für die Flüchtlinge schwer, sich mit der neuen Realität (und Küche) zurechzufinden:

In Civitella hatten sie die Fahne gehißt, beim Wirt hatten sie uns ein Essen richten lassen, es waren Tischtücher und Servietten da. Unser Pfarrer hat gesagt: "Nehmt diese Tischtücher nur weg". Wir waren alle schmutzig von der Reise, wir hatten Durchfall ... Es gab diese Tomatengerichte, die uns nicht allzu sehr schmeckten, aber sie haben uns ein Essen gerichtet!

Besonders in ideologischen Fragen gab es für die Untertanen des Kaiserreiches, die bei Kriegsausbruch nach Italien geflohen waren, eine "Verhaltenskontrolle":

In der Schule mußten wir alles auswendig lernen, auch die Geschichte der Heimat. Die Geschichte der Unabhängigkeit, alles auswendig! Ich erinnere mich, als zu sagen war: "Die Brüder Bandiere starben mit dem Schrei "via l'Italia", und sich alle umdrehten, um zu schauen, ob wir "viva l'Italia" sagten.

Bei der Flucht konnte manchmal die Schlauheit die Lage erleichtern:

Sie hatten uns in Vicenza aufgehalten, am Bahnhof. Hier waren sie höflich, ich erinnere mich, daß sie uns Wasser mit Anis brachten. Es war mit uns auch "Poldo bianco", ein Schuhmacher, ein großer und dicker Mann, der sich an einer Fenster hinstellte und rief: "Viva l'Italia, viva il re, latte per i bambini". Und die Milch wurde gebracht.

Ein verfehlter, ignoranter und pharisäischer Moralismus vermochte auch in diesem Fall den Schaden zu vergrößern und die Opfer der Weltpolitik als Schuldige hinzustellen. Ein geflüchteter Fodomer erzählt:

Der Priester ging auf die Kanzel und predigte: "Paßt auf, wie ihr euch verhält, schaut die Fodomer wie sie bestraft wurden, die von zuhause wegmußten und alles dort lassen mußten, paßt auf, damit euch nicht das gleiche zustößt". Nach der Messe fragten uns die Leute: "Was habt ihr denn getan, daß ihr so bestraft worden seid?"

Die Verbundenheit zum eigenen Tal wird aus einem Bericht eines Flüchtlings deutlich:

Als wir in Corvara waren, kam eines Tages kam ein deutscher Soldat und sagte: "Arabba brennt". Ich begann zu weinen, und er sagte: "Aber was, für jene Baracken, die ihr dort habt" ... Aber das war unsere Heimat, das waren nicht Baracken!

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