|
Mündliche Überlieferung
Die Welt der Geheimisse: Sagen Zur Kulturgeschichte zählen nicht nur die schriftlichen Zeugnisse, sondern auch die mündliche Tradition. Diese wurde im Zuge einer allgemeinen Besinnung auf die Volkskultur- Sagen, Märchen, Lieder, Spruchweisheiten - auch beim kleinen Alpenvolk der Rätoromanen gesammelt. Bei den Rätoromanen in Graubünden hat als erster Caspar Decurtins (1855-1916) das mündliche Kulturerbe gesammelt. Er rief 1887 die Bevölkerung auf, ihm bei der Sammlung zu unterstützen. Die Resonanz war überwältigend, das gesammelte Material reichte für 14 Bände. Der Umfang der bis 1973 gesammelten rätoromanischen Märchen ist mehr als doppelt so umfangreich wie jener in allen drei anderen Sprachgebieten der Schweiz zusammen. Die Dolomitenladiner verfügen über die wohl bekannteste Sagensammlung überhaupt: Ihr Sagenbestand bildet den Kern der Dolomitensagen, die Karl Felix Wolff gesammelt und erstmals 1905 veröffentlicht hat ("Die bleichen Berge"). Wolff hat die Erzählungen schwärmerisch ausgeschmückt, nicht weniges ist romantisch verklärt. Besonders faszinierend und vielschichtig ist der Fanes-Mythos. Die Wurzeln dieses Mythos weisen mehrere tausend Jahre in die Vergangenheit. So ist die Verwandlung der Menschen in Tiere ein uraltes Element, das sich auch in den Sagen der Indianer findet. Das Totem des Fanes-Mythos ist kein Symbol der Macht oder der Jagd (kein Adler), sondern der erdverbundenen Genügsamkeit und Friedlichkeit: Das Murmeltier. Das Böse ist nicht jenseitig-metaphysisch, sondern gehört zur Erde wie auch das Gute: Spina de mul, der Zauberer, der sich in Gewitternächten in ein Tierskelett verwandelt, hat nichts Teuflisches, sondern ist Zauberer aus der Kraft der Natur, er benötigt keine Pakte mit dem Bösen im Jenseits. Das christliche Weltbild und das damit verbundene Bild des Bösen ist in den Fanes-Mythos kaum eingedrungen. Ein Leitmotiv in den Sagen ist das Matriarchat. Im Fanes-Mythos (und in den ladinischen Sagen allgemein, weit weniger jedoch in anderen Sagen Tirols oder des angrenzenden italienischen Raumes) sind es vor allem oder fast ausschließlich die Frauen, die Entscheidungen treffen und den Gang der Geschehnisse beeinflussen. Die Männer hingegen bringen den Untergang, sobald sie Entscheidungen treffen: Der König von Fanes verkauft sein Reich und wird aus Strafe in einen Felsen verwandelt. Der Name "falsche König" - Fauzo rego/Falzarègo (nicht Falzàrego!) gibt dem Pass an der Südgrenze des Fanes seinen Namen. Die Geschehnisse der Sagen wurden in späterer Zeit nach Fanes verlegt, entstanden sind die Sagen jedoch in einem anderen (größeren) Umfeld. Der Kern der Erzählungen stammt aus einer Zeit, in der das Sprachgebiet nicht auf die Dolomiten eingeschränkt war. Ganes und salvans Zu den überlieferten Erzählungen gehören auch zahlreiche Sagen über die ganes und salvans, gute Waldmenschen, denen die Menschen oft mit Rücksichtslosigkeit begegnen. Man wollte lange darin das Bild der Ureinwohner dieser Täler sehen, doch sind diese Gestalten eine Abkunft der römischen Welt (Silvanos und Aquanes) - mythische Gestalten, denen man im ganze Alpenraum in ähnlicher Form begegnet. Zahlreiche Geschichten gibt es über den "Orco", über Hexen und Hexer, Pakte mit dem Teufel etc. Auch die Geschichte wurde damit ausgeschmückt. Zu den Grenzstreitigkeiten zwischen Mareo und Anpezo gibt es so eine Erzählung, wonach die Ampezzaner Männer einen Pakt mit dem Teufel schlossen, um mit übernatürlicher Kraft den riesigen Grenzstein zu verstellen. Als eine Magd erschrocken "Jesses Maria" rief, verloren die Männer durch die Wunderkraft dieser Worte plötzlich ihre Kraft und wurden unter dem Stein begraben. Zu den Sammlern des mündlich überlieferten Kulturgutes gehört Jan Batista (Tita) Altonn (1845-1900), der auch als Lyriker und Essayist hervorgetreten ist. Sprachforschung Als Vorläufer der modernen Sprachforschung von Wichtigkeit war Joseph von Planta, der bereits 1775 der Royal Society in London seine "Geschichte der romanischen Sprache" vorlas. Der Text wurde ein Jahr darauf in Chur gedruckt. Für die Dolomitenladiner bedeutend war Micurà de Rü (Nikolaus Bacher), der 1833 eine deutsch-ladinische Grammatik schrieb und bereits damals die Notwendigkeit einer gemeinsamen Schriftsprache für die Dolomitenladiner erkannte. Eine Sprache Schon früh erkannten Fachleute, dass es sich beim Rumantsch, Ladin und Furlan um verschiedene Dialekte einer einzigen, eigenständigen Sprache handelte. Pionierarbeit leisteten vor allem der aus Gorize (Görz) stammende Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907) und Theodor Gartner (1843-1925). Ascoli stellte mit seinen gründlichen "Saggi ladini" (1873) als erster die Sprache mit den drei Sprachinseln wissenschaftlich dar. Er betrieb das, was man heute modern als "Feldforschung" bezeichnet. In seinem "Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur" schuf eine Übersicht, die bis heute keine Nachfolge gefunden hat. Zahlreiche Forscher verschiedener Universitäten auf der ganzen Welt haben seitdem die Eigenständigkeit des Ladinischen und die Einheit von Rumantsch, Ladin und Furlan bestätigt. Es gab und gibt jedoch immer noch einige wenige, die das Ladinische als italienischen Dialekt betrachten. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, müssen sprachliche Analysen selektiv betrieben werden. Dies geschieht vor allem aus politischen Motiven. In der letzten Jahren hat sich die Sprachforschung intensiviert. Für die Dolomitenladiner zu nennen ist insbesondere der langjährige Direktor des Istitut Cultura Ladin "Micurà de Rü", Lois Craffonara. Ihm verdanken auch zahlreiche Sprachforscher von außen profunde Kenntnisse der sprachlichen Realität. Immer noch zählen seine Erklärungstexte zu den unverzichtbaren. Schriftliche Tradition Dolomiten Sporadische schriftliche ladinische Dokumente gibt es ab ca. 1600 - entstanden aus der praktischen Notwendigkeit heraus, der Bevölkerung in ihrer eigenen Sprache Mitteilungen zu machen. Die Verwaltung hat in der Regel jedoch kaum Platz für das Ladinische. 1833 Micurà de Rü versucht, eine gemeinsame Schriftsprache für die Dolomitenladiner aufzustellen. Das Manuskript bleibt unveröffenticht. 1864 Grammatik für das Grödner Idiom von Josef Anton Vian (Pfarrer in Urtijëi, gebürtig aus Fascia) Mit Agno (Angelo) Trebo (1862-1888) gelingt der Sprung in die literarische Gattung der Lyrik. Trebo schreibt vor allem melancholische, zum Teil tieftraurige Gedichte. Neben Gedichten von schöner Naturbeschreibung, wie sie in der Heimatdichtung vorzufinden ist, hat er Gedichte von beklemmender Gefühlsillustration geschrieben, wie sie in der Weltliteratur anzutreffen ist. Angelo Trebo hat auch den Text für die zwei ersten ladinischen Operetten geschrieben ("Le scioz de San Jenn" und "Le ciastel dles stries") Der Dichter, Historiker und Philologe Tita Altonn (1845-1900) sammelt Sagengut und Überlieferungen. Hugo de Rossi (1875-1940) verfasst ein Wörterbuch (fascian). Eine Welle literarischer Produktion setzt ein, die stilistisch zu einem beträchtlichen Teil der "Heimatdichtung" zugerechnet werden kann; sie ist Zeichen eines neuen ladinischen Selbstbewusstseins und einer neuen Wertschätzung der eigenen Sprache. Kulturträger sind in dieser Zeit Lehrer oder Priester. Der positiven Entwicklung wird durch den Ausbruch des ersten Weltkriegs ein jähes Ende gesetzt. Nach dem 2. Weltkrieg beginnt - obwohl von vieler Seite Ladinisch immer noch als Sprache angesehen wird, die nur im Privaten Anwendung finden soll - eine Renaissance des Ladinischen, mit einer immer größeren stilistischen Diversifikation in der literarischen Aktivität. Zu den herausragenden Gestalten gehört Max Tosi, der (ähnlich wie Pasolini im Friaul) das Gherdëina erst als zweite Sprache erlernt und zur Sprache seiner Dichtung auserkoren hat. Heute stellt sich die ladinische Literatur reichhaltig, unterschiedlich im Stil und in der Thematik dar: Die ladinische Literatur unterscheidet sich inhaltlich und thematisch kaum von der Literatur der Nachbaren, sie ist aber für Experimente (u.a. Mehrsprachigkeit) generell offener als die Literatur ihrer Nachbaren. Die Nachbaren wissen kaum etwas über die ladinische Literatur, häufig wissen sie nicht einmal, dass es sie gibt. Und da sie die Sprache nicht kennen, könne sie auch nicht Urteile fällen. Meistens wird die ladinische Literatur gar nicht zur Kenntnis genommen, es wird auch in den deutschen und italienischen Medien fast nie über ladinische Literatur berichtet. Graubünden Die Schriftliche Tradition des Rätoromanischen beginnt in Graubünden im 16. Jahrhundert; den wesentliche Anstoß gibt die Reformation (und die Gegenreformation) und damit die Absicht, die Menschen Erbauliches in seiner Sprache zu geben. Dem Oberengadiner Staatsmann Gian Travers verdanken wir das erste bekannte rätoromanische Dokument. Er benützt die Muttersprache im Jahre 1527 für eine politische Verteidigungsschrift, die als Manuskript verbreitet wird. Die ersten gedruckten Publikationen in rätoromanischer Sprache erscheinen 1552: Eine Religionslehre und ein ABC-Büchlein im oberengadiner Idiom. Ihr Verfasser ist Jachiam Bifrun, Notar in Samedan. Wenige Jahre danach (1560) übersetzt er das Neue Testament ins Rätoromanische (Idiom Puter). Die Sprache ist Vehikel für die Religion. Wahre Renner werden vor allem zwei Publikationen: "Il vêr sulaz da pievel giuven" (Die wahre Unterhaltung der jungen Leute, 1611), das noch zwölfmal auf Romanisch erscheint sowie elfmal in deutscher und siebenmal in italienischer Übersetzung. Einen ähnlichen Erfolg hat "Consolaziun dell'olma devoziusa" (Trost der frommen Seele, 1690), ein katholisches Andachtsbuch mit Liedern, die teilweise auch heute noch gesungen werden. Das Buch erscheint bis 1945 elfmal. Durch die religiöse Verwendung bleiben die Idiome lange konfessionell und schriftsprachlich gespalten. Zu einer gemeinsamen Schriftform für alle Rätoromanen zu finden ist damit für lange Zeit schwierig. Die zeitgenössische Literatur präsentiert sich reich und innovativ. Friaul Im Friaul wurde die Sprache öffentlich verwendet, solange es die Selbstverwaltung gab (Patriarchat von Aquiliea, Ende 1420): Es gibt Dokumente u.a. aus der Notarschule in Cividât aus dem 14. Jahrhundert. Nach der Annexion eines Teils des Friauls durch Venedig wird Friaulisch in der Verwaltung nicht mehr verwendet. Die friaulische Literaturgeschichte beginnt in der Renaissance mit mehreren bedeutenden Gestalten. Es ist keine religiös gebundene Literatur, auch keine Heimatdichtung, sondern weltliche, mondäne Dichtung. Aus dieser Zeit stammen die ersten Übersetzungen aus der Weltliteratur. In den folgenden Jahrhunderten hatte die friaulische Literatur zahlreiche bedeutende Figuren aufzuweisen. Zu den hervorragenden Dichtern gehören Ermes di Colloredo, Pietro Zorutti (der mit seinen Almanachen zur Festigung der koiné beiträgt), Caterina Percoto. Einen neuen Aufschwung nimmt die Literatur während des 2. Weltkrieges mit Pier Paolo Pasolini. Der Italiener Pasolini lernt Friaulisch, die Sprache seiner Mutter. Er bringt einen neuen Schwung in die friaulische Literatur. Pasolini schreibt Gedichte auf Furlan sowie ein Theaterstück (I Turcs tal Friûl). Mit der Gründung der Academiuta de lenga furlana 1945 setzt Pasolini eine epochale Tat. Eine ganze Dichtergeneration wird durch ihn inspiriert. Pasolini, der auch politisch aktiv ist, ist ein vehementer Vertreter der sprachlichen Eigenständigkeit des Furlan: "Lingua ladina dunque, non dialetto alpino". Heute ist die friaulische Literatur sehr reich an Stilrichtungen und Gattungen, von der Lyrik bis zum Comic. Eine traditionsreiche Einrichtung ist das Literatur- und Musikwettbewerb "Premi Friûl". |
Created by Endo7 | Consulta Ladina - Comun de Bulsan |